Le Gamin Au Vélo
DVD - Release: 23.8.2012
Rezension von Walter Gasperi
Sozialdramen ohne viel Hoffnung waren die Filme der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne bisher. In ihrem neuen Film lassen sie aber einen von seinem Vater verlassenen zwölfjährigen Heimjungen in einer Friseurin eine gute Fee finden.
Von der ersten Einstellung an packt „Le gamin au vélo“ den Zuschauer, nimmt ihn gefangen. Hautnah ist die Kamera am Gesicht eines knapp zwölfjährigen Jungen (Thomas Doret). Verkrampft hält er einen Telefonhörer und lässt auch nicht los, als ihm ein Mann aus dem Off erklärt, dass es keinen Anschluss unter der gewählten Nummer gebe.
Cyril aber will nicht glauben, dass ihn sein Vater (Jérémie Renier) ins Heim abgeschoben hat, wird bald abhauen, aber feststellen müssen, dass der Vater schon vor einem Monat aus seiner Wohnung ausgezogen ist. Als die Sozialarbeiter ihn ins Heim zurückbringen wollen, wird er sich verzweifelt an die Mittdreissigerin Samantha (Cécile de France) klammern. Bewegt ist diese Friseurin von der inneren Unruhe und dem Zorn des Jungen, wird ihn bald im Heim besuchen, dann zu sich holen und versuchen ihm durch ihre Liebe und Fürsorge zu zeigen, dass das Leben auch ganz anders sein kann…
Atemlos und sozial engagiert
Nach einem verlogenen Rührstück klingt das, doch die Dardennes inszenieren diese Geschichte mit einer Direktheit und einer Unmittelbarkeit, die kein Wenn und Aber zulassen, die jedes Abgleiten ins Sentimentale verhindern und „Le gamin au vélo“ trotz seines märchenhaften Ansatzes Echtheit und Wahrhaftigkeit verleihen. Mit nervösem Schnitt und unruhiger Handkamera kehren sie die ganze Getriebenheit, die innere Unruhe und Verzweiflung dieses Jungen im roten T-Shirt nach aussen. So atemlos wie dieser junge Protagonist, der stets zu Fuss oder mit seinem Fahrrad unterwegs ist, ist der Film. Zur Ruhe kommen Cyril und damit auch der Erzählrhythmus nur bei einem langen Gespräch mit dem Vater, das Kameramann Alain Marcoen in einer virtuosen mehrminütigen Plansequenz einfängt. Sowie diese Harmonie aber wenig später wieder zerbricht, der Junge dennoch nicht den Glauben an seinen Vater aufgeben wird, kennt dieses hyperenergetische Sozialdrama wiederum kein Verweilen mehr. Hier gibt es keine überflüssige Szene und keine Schnörkel, sondern nur ein permanentes Vorwärtsdrängen, das durch grosse Ellipsen noch verstärkt wird.
Die Kraft der Liebe und Fürsorge
Statt zu erklären, beschränken sich die Regiebrüder aufs Zeigen und Erzählen. Schmucklos und nüchtern wirkt das, doch gerade in der scheinbaren Kunstlosigkeit besteht die Kunstfertigkeit des Films. Bestechend ist der Blick auf den von Thomas Doret voll zorniger Energie gespielten verzweifelten Jungen, ein märchenhafter Kontrapunkt Cécile de France, die sich trotz bitterer Enttäuschungen immer wieder hinter ihren Schützling stellt, für ihn sogar ohne Zögern ihren Freund aufgibt.
Durch ihren Einsatz wird das Versagen des verantwortungslosen jungen Vaters aufgefangen, mit dessen Verkörperung Jérémie Renier seine Figur aus „L´enfant“ variiert und weiterentwickelt. Wärme und Menschlichkeit in das bisher vom kalten Winter bestimmte Universum der Dardennes bringt aber nicht nur diese engelhafte Frau, sondern auch die Sommerstimmung. Und wie schon am Ende von „Le silence de Lorna“ setzen die Brüder auch hier mehrmals Musik ein, lassen einige Takte aus dem Adagio von Beethovens fünftem Klavierkonzert ertönen, die schon einen Neubeginn und eine Wende im Leben Cyrils ankündigen oder zumindest davon träumen lassen.
(Walter Gasperi)
Kritiken
Offizielle Website | Verleiher |
www.legaminauvelo-lefilm.com | Xenix Film |
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