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68. Filmfestival Locarno. Schlussbericht und Palmarès. Von Walter Gasperi

68. Filmfestival Locarno. Schlussbericht und Palmarès. Von Walter Gasperi

Solide und vielfältig präsentierten sich Wettbewerb und Piazzaprogramm des 68. Filmfestivals von Locarno. Zwar fehlten wirklich überragende Filme, aber auch grosse Enttäuschungen waren Mangelware. Der Goldene Leopard ging an „Right Now, Wrong Then“ des Südkoreaners Hong Sangsoo.

Nachdem der künstlerische Leiter Carlo Chatrian dem Publikum in den letzten Jahren im Wettbewerb mit sperrigen Filmen, die sich der Narration vielfach verweigerten, Einiges zugemutet hatte, blieb die schwere Kost heuer eher die Ausnahme. Einzig Chantal Akerman stellte die Zuschauer mit „No Home Movie“, in dem sie in langen statischen Einstellungen ihre Mutter bei ihrem ereignislosen Alltag in ihrer Brüsseler Wohnung beobachtet, vor eine Geduldsprobe.

Goldener Leopard für Hong Sangsoo
Leicht kommt dagegen „Right Now, Wrong Then“ von Hong Sangsoo daher. Schon vor zwei Jahren wurde der Südkoreaner für „Our Sunhi“ in Locarno mit dem Regiepreis ausgezeichnet, nun verlieh ihm die von Udo Kier geleitete Jury den Goldenen Leoparden. 
Wie der Titel so ist auch der Film zweigeteilt und Hong erzählt mit kleinen, aber zentralen Abweichungen zweimal dieselbe Geschichte. Im Mittelpunkt steht ein Filmregisseur (Jung Jae-young, der auch den Preis für den besten Darsteller erhielt), der in eine südkoreanische Stadt kommt, um im Anschluss an die Vorführung eines seiner Filme ein Publikumsgespräch zu führen. Doch der Regisseur ist einen Tag zu früh gekommen und muss nun die Zeit totschlagen. In einem Palast entdeckt er eine junge Frau, beginnt mit ihr ein Gespräch, geht mit ihr in ein Café, dann in ihre Wohnung, weiter in ein Restaurant und schließlich zu ihren Freunden, wo klar wird, dass der Regisseur schon verheiratet ist und Kinder hat. Die Frau wird allein nach Hause gehen, der Regisseur am nächsten Tag seine Lecture halten und dann abreisen.
Indem Hong nun die gleiche Geschichte nochmals erzählt, Szenen teilweise identisch wiederholt, teilweise aber variiert, vor allem den Regisseur nun schon früh preisgeben lässt, dass er verheiratet ist, wirft der Südkoreaner die Frage auf, ob die Dinge im Großen anders verlaufen, wenn man sich im Detail anders verhält.
In langen ruhigen Einstellungen, die vielfach einer ganzen Szene entsprechen, ist das ausnehmend schön gefilmt, besticht durch starke Schauspieler, denen viel Raum gelassen wird, den sanften Blick und die Balance zwischen Komik und Ernst, erscheint insgesamt aber doch als Leichtgewicht.

Jurypreis für verstörenden „Tikkun“
Mehr zu packen, aufzuwühlen und zu verstören, verstand da schon Avishai Sivans „Tikkun“, der mit dem „Spezialpreis der Jury“ sowie dem FICC/IFFS Preis (International Federation of Film Societies) ausgezeichnet wurde.
Vom ersten Bild an, in dem zwei Männer eine Kuh koscher schlachten, nimmt dieses in strengem Schwarzweiß gehaltene Drama gefangen. Im Mittelpunkt steht eine ultra-orthodoxe jüdische Familie. Völlig verinnerlicht hat der etwa 18-jährige Sohn die religiösen Regeln, badet nicht zu Hause, sondern nur in der Mikve, fastet verbissen, bis er eines Tages zusammenbricht.
Die zu Hilfe gerufenen Sanitäter erklären ihn schon für tot, doch der Vater setzt die Reanimierung fort und der junge Mann erwacht wieder. Gab es für ihn aber bislang nur den Geist, so löst er sich nun langsam von der Religion und entdeckt zunehmend Interesse am Körperlichen. Doch zu sehr sind die religiösen Vorschriften schon in ihm verwurzelt, als dass er sich wirklich davon befreien könnte, wird vielmehr zerrissen, während der Vater sich durch die quasi Wiedererweckung des Sohnes vor Gott schuldig gemacht hat.
Grosse Dichte entwickelt „Tikkun“ durch die ungemein konzentrierte und geschlossene Inszenierung. Die Kamera wird kaum bewegt, auf Filmmusik wird verzichtet, stringent wird die Geschichte, die den Zuschauer in eine fremde Welt von Ritualen und Regeln, aber auch irritierenden Bildern entführt, weiter getrieben.

Fünfstündiges japanisches Frauendrama
Einen starken Eindruck hinterliess auch das fünfstündige japanische Drama „Happy Hour“, in dem Hamaguchi Ryusuke ausgehend von der Freundschaft zwischen vier etwa 35-jährigen Frauen und ihren Eheproblemen einen Blick auf die japanische Gesellschaft wirft, die Herrschaft der Männer, die Erstarrung in Ritualen und die Unfähigkeit zu Nähe und Körperlichkeit aufdeckt.
Ständig bedanken sich hier die Figuren und entschuldigen sich, sind aber im Grunde unfähig sich zu öffnen. Nicht zufällig steht folglich ziemlich am Beginn ein Workshop, in dem es um Balance zwischen Körper und Geist und um Körperkontakt geht. Quasi in Echtzeit inszeniert Hamaguchi nicht nur diese Szene, sondern später auch eine Lesung und die anschließende Diskussion, sodass es nicht verwundern kann, dass „Happy Hour“ 317 Minuten lang wurde. 
Überlang ist dieser unaufgeregte und unspektakuläre Film damit und manche Kürzung wäre wohl möglich, andererseits ermöglicht es aber auch erst die Länge und der geduldige Blick die von einem herausragenden Ensemble gespielten Charaktere - die vier Hauptdarstellerinnen erhielten den Preis für die besten weiblichen Darsteller - richtig zum Schillern zu bringen.


Preis der Ökumenischen Jury für „Paradise – Ma dar behesht“
Starke iranische Gesellschaftskritik zeichnete dagegen die Ökumenische Jury mit der Vergabe ihres Preises an Sina Ataelan Denas „Ma dar behesht – Paradise“ aus. Im Mittelpunkt dieses Langfilmdebüts, das ohne offizielle Erlaubnis der Regierung, aber mit starker deutscher Unterstützung entstand, steht die Grundschullehrerin Hanieh, die um eine Versetzung von ihrer jetzigen Schule ansucht, dabei aber auf eine äusserst schwerfällige Bürokratie stösst.
Lustlos verrichtet die junge Frau ihren Job in einer Mädchenschule, in der die Direktorin jeden Morgen den stramm aufgestellten Schülerinnen Regeln zur Kleidung, zum Verbot von Lackieren der Fingernägel oder Wegwerfen von Speisen eintrichtert. Nicht von Männern, sondern von Frauen selbst wird hier die patriarchale Gesellschaftsordnung vertreten und zementiert.
Eindrücklich zeigt Dena am Beispiel der jungen Lehrerin, wie diese Unterdrückung jede Lebensfreude abtötet und Hanieh nur noch versucht sich, ohne sich mit den Behörden anzulegen, irgendwie durchzuschlängen, im Verborgenen gewissen Freiraum zu gewinnen.

Grosse Vielfalt
Die Stärke des heurigen Wettbewerbs lag in seiner Vielfalt, in der Mischung aus Altmeistern und Newcomern, aus klassischem Autorenfilm und Genrekino. Während der Episodenreigen „Chant d´hiver“ des 81-jährigen Otar Iosseliani wie eine Neuauflage seines vor 30 Jahren entstandenen Meisterwerks „Les favoris de la lune“ wirkte und die Griechin Athina Rachel Tsangari in ihrem „Chevalier“ zwar lustvoll Männlichkeitswahn zerlegte, aber ganz im Gegensatz zu ihrem Debüt „Attenberg“ nicht über ein klassisches Dialogstück hinauskam, bot Alex van Warmerdam mit „Schneider vs. Bax“ beste pechschwarze Unterhaltung im Stil der Coen-Brüder. Wenn hier ein Killer an seinem Geburtstag einen Routineauftrag erhält, ist von Anfang an klar, dass nicht alles reibungslos ablaufen wird. Wie freilich der Niederländer mit zahlreichen Wendungen immer wieder überrascht, souverän an der Handlungsschraube dreht und in trocken-unaufgeregter Inszenierung ein Rädchen ins andere greifen lässt, sorgt für ungetrübtes Kinovergnügen.

„Heimatland“: 10 Regisseure – 1 Film
Mit Mustern des Genrefilms, speziell des Katastrophenfilms, arbeitet auch der einzige Schweizer Wettbewerbsbeitrag. Zehn Regisseure haben sich für „Heimatland“ zusammengeschlossen, jeder drehte eine Episode, die dann in der Postproduktion zu einem einzigen Film zusammengefügt wurden. Ausgehend von der Ausbreitung einer gewaltigen geheimnisvollen Wolke über der Schweiz, die zunehmend Verunsicherung bei der Bevölkerung auslöst, versucht „Heimatland“ der Eidgenossenschaft satirisch den Spiegel vorzuhalten.
So überzeugend aber auch Bildgestaltung und Sounddesign sind und in der ersten Hälfte mit den Mitteln des Katastrophenfilms im Stil von Roland Emmerich gearbeitet und dicht eine beunruhigende Atmosphäre beschworen wird, so platt und aufgesetzt wirkt dann doch die Gesellschaftskritik, die hier geübt wird. Auch die Fülle der Geschichten erweist sich als Schwäche. Gekonnt werden diese zwar auf der einen Seite verknüpft, andererseits bleiben sie angesichts der Vielzahl teilweise auch zu bruchstückhaft und die Figurenzeichnung zu dürftig, um wirklich zu interessieren.

Ansprechendes Piazzaprogramm
Wie im Wettbewerb blieben auch auf der Piazza abgesehen von Barbet Schroeders unglaublich konstruiertem und sterilem NS-Vergangenheitsbewältigungsdrama „Amnesia“ die Enttäuschungen aus. Grosse Meisterwerke fehlten zwar auch hier, aber mit der hinreissend gespielten Alter- und Alzheimer-Tragikomödie „Floride“, der kanadischen Politsatire „Guibord s´en va-t-en guerre“, dem inhaltlich zwar schablonenhaften, aber prächtig ausgestatteten und gefilmten indischen Gangsterfilm „Bombay Velvet“ bis hin zur frech erzählten und frisch gefilmten und gespielten US-Coming-of-Age-Geschichte „Me and Earl and the Dying Girl“ wurde für jeden Geschmack etwas geboten.
Der Publikumspreis ging an Lars Kraumes „Der Staat gegen Fritz Bauer“. Filmisch nicht spektakulär, aber sehr solide und präzise in der Schilderung der restaurativen BRD der 1950er Jahre, in der man die Nazizeit lieber unter den Tisch kehren als aufarbeiten wollte, erzählt Kraume darin, unterstützt von einem starken Ensemble, aus dem Burghart Klaußner herausragt, von der Jagd des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer auf den NS-Verbrecher Adolf Eichmann, der schliesslich aufgrund von Bauers Recherchen im Mai 1960 vom israelischen Geheimdienst Mossad in Argentinien ergriffen und nach Israel entführt werden konnte.
(Walter Gasperi)

Preise des 68. Filmfestival Locarno

INTERNATIONALER WETTBEWERB WETTBEWERB "CINEASTI DEL PRESENTE"
Goldener Leopard
JIGEUMEUN MATGO GEUTTAENEUN TEULLIDA
(Right Now, Wrong Then) von Hong Sangsoo, Südkorea
Goldener Leopard
THITHI
von Raam Reddy, Indien/Vereinigte Staaten/Kanada
Spezialpreis der Jury
TIKKUN
von Avishai Sivan, Israel
Spezialpreis der Jury
DEAD SLOW AHEAD
von Mauro Herce, Spanien/Frankreich
Leopard für die Beste Regie
ANDRZEJ ZULAWSKI
für COSMOS, Frankreich/Portugal
Leopard für die Beste Regie
LU BIAN YE CAN
(Kaili Blues) von Bi Gan, China
Leopard für die beste weibliche Darstellerin
TANAKA SACHIE, KIKUCHI HAZUKI, MIHARA MAIKO, KAWAMURA RIRA
für HAPPY HOUR von Hamaguchi Ryusuke, Japan
Leopard für den besten männlichen Darsteller
JUNG JAE-YOUNG für JIGEUMEUN MATGO GEUTTAENEUN TEULLIDA
(Right Now, Wrong Then) von Hong Sangsoo, Südkorea
Besondere Erwähnungen
Für das Drehbuch von HAPPY HOUR
von Hamaguchi Ryusuke, Japan
Für die Kameraarbeit von Shai Goldman in TIKKUN
von Avishai Sivan, Israel
 
   
ERSTLINGSFILME  
Goldener Leopard
THITHI
von Raam Reddy, Indien/Vereinigte Staaten/Kanada
 
Swatch Art Peace Hotel Award
SINA ATEIAN DENA
für MA DAR BEHESHT (Paradise), Iran/Deutschland
 
Besondere Erwähnungen
LU BIAN YE CAN (Kaili Blues) von BI Gan, China
KIEV/MOSCOW. PART 1 von Elena Khoreva, Russland/Estland/Ukraine
 
   
KURZFILMWETTBEWERB "PARDI DI DOMANI"  
INTERNATIONALER WETTBEWERB NATIONALER WETTBEWERB
Goldener Leopard
MAMA
von Davit Pirtskhalava, Georgien
Goldener Leopard
LE BARRAGE
von Samuel Grandchamp, Schweiz/Vereinigte Staaten
Silberner Leopard
LA IMPRESIÓN DE UNA GUERRA
von Camilo Restrepo, Frankreich/Kolumbien
Silberner Leopard
D’OMBRES ET D’AILES
von Eleonora Marinoni, Elice Meng, Schweiz/Frankreich
Nominierung Locarno für die European Film Awards
FILS DU LOUP
von Lola Quivoron, Frankreich
Best Swiss Newcomer Award
LES MONTS S’EMBRASENT
von Laura Morales, Schweiz
Preis "Film und Video Untertitelung"
MAMA
von Davit Pirtskhalava, Georgien
 
Besondere Erwähnung
NUEVA VIDA
von Kiro Russo, Argentinien/Bolivien
 
   
PIAZZA GRANDE  
Publikumspreis
DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER
von Lars Kraume, Deutschland
Variety Piazza Grande Award
LA BELLE SAISON
von Catherine Corsini, Frankreich
   
Preis FIRESCI
SUITE ARMORICAINE
von Pascale Breton, Frankreich
Preis der ökumenischen Jury
MA DAR BEHESHT (Paradise)
von Sina Ataeian Dena, Iran/Deutschland