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GewinnerInnen des 70. Festival Locarno. Von Walter Gasperi

GewinnerInnen des 70. Festival Locarno. Von Walter Gasperi

Mangelnde Vielfalt kann man weder dem heurigen Wettbewerb noch dem Piazza-Programm vorwerfen, doch echte Highlights fehlten weitgehend. Mit dem Goldenen Leoparden wurde der chinesische Dokumentarfilm „Mrs. Fang“ ausgezeichnet.

Im Gegensatz zu früheren Jahren präsentierte sich der Wettbewerb sehr zugänglich, sperrige Filme blieben Mangelware. Gross war dafür die Bandbreite, reichte von der brasilianischen Werwolfgeschichte „As boas maneiras“ über den schrägen „Madame Hyde“ bis zu vier Dokumentarfilmen. Abwechslungsreich verlief damit der Wettbewerb, doch nach starkem Beginn flaute das Niveau der Filme in der zweiten Festivalhälfte eher ab statt zuzulegen.


Goldener Leopard für „Mrs. Fang“
Überraschend fiel die Entscheidung der vom französischen Filmregisseur Olivier Assayas geleiteten Jury aus. Den mit 90.000 Franken dotierten Goldenen Leoparden vergab sie an den chinesischen Dokumentarfilm „Mrs. Fang“, in dem Wang Bing in langen und ruhigen Einstellungen das langsame Sterben einer 68-jährigen Frau kommentarlos schildert. Unwohlsein löst dieser Film freilich aus, wenn die Kamera minutenlang in Nahaufnahme festhält, wie die nahezu bewegungsunfähige Frau mit halboffenem Mund in ihrem Bett liegt. 
Auch wenn die Protagonistin dem Regisseur die Zustimmung zur Dokumentation ihres Sterbens gegeben hat, stellt sich angesichts der Tatsache, dass sie danach den Prozess aufgrund ihres Zustands nicht mehr stoppen konnte und keine Hoheit über das Bild mehr hatte, doch das Gefühl von Voyeurismus ein. Vielleicht aber will Wang Bing gerade auch solche Gedanken beim Zuschauer provozieren und in Zeiten der Allgegenwart von Bildern mit seinem Film die Frage nach ethischen Grenzen der filmischen Dokumentation aufwerfen.

Spezialpreis der Jury für „As boas maneiras“
Verstehen kann man, dass einem Regisseur wie dem Jury-Präsidenten Olivier Assayas, der in seinen Filmen auch gerne mit den Genres spielt, die brasilianische Werwolfgeschichte „As boas maneiras“ gefiel. Ganz realistisch lassen Marco Dutra und Juliana Royas ihren Film in einem schicken Apartment in São Paolo mit der Einstellung der farbigen Clara als Haushälterin und zukünftiges Kindermädchen der schwangeren Ana beginnen.
 Was als Studie von Klassengegensätzen beginnt, wird bald zu einer Beziehungsgeschichte, bei der Clara entdecken muss, dass Ana bei Vollmond nicht nur schlafwandelt, sondern auch grossen Blutdurst entwickelt. Langsam wandelt sich so das vermeintliche Sozialdrama zu einem Genrefilm, der freilich auch als Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld der im Titel genannten guten Manieren und den darunter schlummernden animalischen Trieben, mit Mutterschaft und dem Umgang mit Fremdem gelesen werden kann.

Darstellerpreise für Isabelle Huppert und Elliott Crossett Hove
Als beste Darstellerin wurde Isabelle Huppert ausgezeichnet, die in Serge Bozons schrägem und unentschlossen zwischen Komik und Ernst schwankendem „Madame Hyde“ eine zunächst hilflose Lehrerin spielt, die durch einen Blitzschlag plötzlich Stärke und Energie entwickelt. 
Bei den Männern ging dieser Preis an den Dänen Elliott Crossett Hove für seine Leistung in dem düsteren Drama „Vinterbrødre“. Eindrucksvoll evoziert Hlynur Pálmason darin mit kalten Winter- und dunklen Bildern aus einem Bergwerk sowie mächtigem Sounddesign die beklemmende Atmosphäre unter dänischen Bergarbeitern, die fragmentarische Handlung lässt aber auch viele Fragen offen.

Regiepreis für F. J. Ossang
Mit dem Franzosen F. J. Ossang erhielt der Regisseur, der den mit Abstand sperrigsten Film zum Wettbewerb beisteuerte, den Regiepreis. Sehr stimmungs- und stilvoll ist „9 Doigts“ zwar in Schwarzweiß gefilmt, doch das Spiel mit Versatzstücken des Film noir und des Gangsterfilms führt – wohl durchaus absichtlich – wie die Fahrt einer Gruppe Gangster auf einem Schiff ins Nichts. Je mehr man hier versucht eine Handlung zu erkennen, desto mehr verliert man in diesem surrealen Film und seinen prätentiösen philosophischen Dialogen die Orientierung.


Preis der Ökumenischen Jury für „Lucky“
Einen echten Crowd-Pleaser zeichnete dagegen die Ökumenische Jury mit dem Regiedebüt des Schauspielers John Carroll Lynch aus. Getragen von dem famosen 91-jährigen Harry Dean Stanton in der Titelrolle folgt „Lucky“ ein paar Tage dem Alltag des greisen Mann durch sein im Südwesten der USA gelegenes Wüstenkaff.
 Rein äusserlich passiert nicht viel in diesem wunderbar lakonischen Film, aber in der kleinen Geschichte mit den sich wiederholenden Begegnungen Luckys mit den ihn schätzenden Bekannten und Freunden erzählt Lynch bewegend und voll zarter Melancholie von Alter, Vergänglichkeit und der Unausweichlichkeit des Todes. 
Geschickt gruppiert Lynch dabei auch um den von Stanton knochentrocken gespielten Protagonisten eine Reihe perfekt gecasteter, herrlich schrulliger Typen, zu denen auch der von Regielegende David Lynch, der mit dem Regisseur nicht verwandt ist, gespielte Freund Luckys zählt.
 Die Ökumenische Jury begründete ihre Entscheidung damit, dass „Lucky“ im Angesicht des nahen Todes nach dem Sinn des Lebens frage und zeige wie der greise Protagonist, obwohl zornig, ängstlich und alleine, nach und nach lerne andere zu lieben und schliesslich eine dem Leben zugrundeliegende Spiritualität zu erkennen.

Fipresci-Preis für „Dragonfly Eyes“
Überraschend wirkt dagegen wieder die Vergabe des Fipresci-Preises, des Preises des Verbands der Filmkritiker, an Xu Bings „Dragonfly Eyes“. Es ist zwar durchaus interessant, wie Bing einzig aus Aufnahmen von Überwachungskameras, die durch einen Off-Erzähler und Dialoge ergänzt werden, eine Geschichte konstruiert, doch einen guten Film ergibt das noch kaum. Zu fremd bleiben einem die Figuren, zu beliebig die Bilder, als dass diese inhaltlich spannende Auseinandersetzung mit Realität und Täuschung sowie mit Wirklichkeit und virtueller Welt auch formal überzeugen könnte.

Perlen ohne Preise: „Wajib“, „Charleston“, „Did You Wonder Who Fired the Gun?“
Nicht zu überzeugen vermochte der Schweizer Wettbewerbsbeitrag “Goliath”, in dem Dominik Locher allzu sprunghaft und psychologisch wenig glaubwürdig von einem zunächst schwächlichen und ängstlichen jungen Mann erzählt, der beginnt Anabolika zu spritzen, um seine schwangere Freundin besser schützen zu können.
 Stärkeren Eindruck hinterliess hier schon der palästinensische Beitrag „Wajib“, in dem Annemarie Jacir anhand der Autofahrt eines Vaters und eines Sohnes durch Nazareth unaufgeregt einen vielschichtigen und differenzierten Einblick in das schwierige Leben der Palästinenser in der unter strenger Beobachtung durch die israelischen Behörden stehenden Stadt, aber auch in die familiären Beziehungen bietet.
 Viel Zeit nimmt sich wiederum der Rumäne Andrei Cretulescu, der in „Charleston“ wunderbar lakonisch, aber mit Szenen von herrlichem Witz von einem jungen Mann erzählt, der den Kontakt zum Witwer seiner verstorbenen Geliebten sucht. 
Überzeugend das Private mit dem Politischen verknüpft der Amerikaner Travis Wilkerson in seinem Dokumentarfilm „Did You Wonder Who Fired the Gun?“. Ausgangspunkt und zentrale Handlungslinie des Films sind zwar Wilkersons Nachforschungen zum Mord seines eigenen Urgrossvater an dem Afroamerikaner Bill Spann 1946 in Alabama, doch ausgehend von dieser Einzeltat, für die der Täter nie zur Verantwortung gezogen wurde, blickt der Regisseur auch immer wieder auf die Geschichte und Gegenwart des Rassismus in Alabama und entreisst die Opfer damit auch dem Vergessen.

Durchschnittliches Piazzaprogramm
Wie für den Wettbewerb gilt auch für die Piazza, dass Vielfalt Trumpf war, echte Highlights aber fehlten. Mit „Atomic Blonde“ wurde ein knallharter Actionfilm ebenso präsentiert wie mit dem am Rande der Wüste Rajasthan spielenden „The Song of Scorpions“ eine in allzu schönen Bildern schwelgende tragische Liebesgeschichte. 
Grosse Kinobilder bot zwar „Iceman“, in dem Felix Randau von dem 1991 in den Ötztaler Alpen gefundenen Steinzeitmenschen Ötzi erzählt, doch die Handlung ist reduziert auf eine äusserst dürftige Rache-Geschichte. Solides Genrekino bot der Boxerfilm „Sparring“, in dem für einmal ein Verlierertyp im Mittelpunkt steht, während man die Programmierung von Samuel Benchetrits „Chien“ auf der Piazza als kühn ansehen muss. Mit so unerbittlicher Konsequenz, dass es weh tut und einem das Lachen bald nur noch im Hals stecken bleibt, erzählt der Franzose darin nämlich von einem völlig willenlosen Mann (Vincent Macaigne), der alle Demütigungen emotionslos über sich ergehen lässt und sich schliesslich ganz in die Rolle eines Hundes drängen lässt, der alle Befehle brav erfüllt.
 Konsensfähiger war hier zweifellos Michael Showalters romantische Liebeskomödie „The Big Sick“, die auch den Publikumspreis gewann. Getragen von den zwei blendend harmonierenden ebenso unverbrauchten wie sympathischen Hauptdarsteller Kumail Nanijani und Zoe Kazan verpackt Showalter seinem dritten Kinofilm, der auf der persönlichen Geschichte Nanjianis beruht, in die Liebesgeschichte auch eine Auseinandersetzung mit Familientraditionen und familiären Zwängen ebenso wie mit Krankheit, bewahrt immer Leichtigkeit, verharmlost aber die Probleme nicht. – Das ist - kein Zufall vielleicht, dass der Hauptdarsteller an den jungen Cary Grant erinnert – feines US-Kino alter Schule, wie man es gerne häufiger auf der Piazza gesehen hätte oder in der Zukunft sähe.
(Walter Gasperi)

Preise des 70. Festival Locarno

  INTERNATIONALER WETTBEWERB
Goldener Leopard MRS. FANG von Wang Bing
Frankreich, Volksrepublik China, Deutschland
Spezialpreis der Jury AS BOAS MANEIRAS von Juliana Rojas, Marco Dutra
Brasilien, Frankreich
Beste Regie F.J. OSSANG für 9 DOIGTS
Frankreich, Portugal
Beste Darstellerin ISABELLE HUPPERT für MADAME HYDE von Serge Bozon
Frankreich, Belgien
Bester Darsteller ELLIOTT CROSSET HOVE für VINTERBRØDRE von Hlynur Pálmason
Dänemark, Island
   
  WETTBEWERB "CINEASTI DEL PRESENTE"
Goldener Leopard 3/4 (Three Quarters) von Ilian Metev
Bulgarien, Deutschland
Spezialpreis der Jury MILLA von Valerie Massadian
Frankreich, Portugal
Preis Beste Nachwuchsregie KIM DAE-HWAN für CHO-HAENG (The First Lap)
Südkorea
Besondere Erwähnungen DISTANT CONSTELLATION von Shevaun Mizrahi
USA, Türkei, Niederlande
VERÃO DANADO von Pedro Cabeleira
Portugal
   
  SIGNS OF LIFE
Bester Film COCOTE von Nelson Carlo De Los Santos Arias
Dominikanische Republik, Argentinien, Deutschland, Katar
Fundación Casa Wabi - Mantarraya Award DANE KOMLJEN für PHANTASIESÄTZE
Deutschland, Dänemark
Besondere Erwähnung ERA UMA VEZ BRASÍLIA von Adirley Queirós
Brasilien, Portugal
   
  ERSTLINGSFILME
Preis für den besten Debütfilm SASHISHI DEDA (Scary Mother) von Ana Urushadze
Georgien, Estland
Swatch Art Peace Hotel Award METEORLAR (Meteors) von Gürcan Keltek
Niederlande, Türkei
Besondere Erwähnung DENE WOS GUET GEIT (Those Who Are Fine) von Cyril Schäublin
Schweiz
   
  KURZFILMWETTBEWERB "PARDI DI DOMANI"
Internationaler Wettbewerb  
Goldener Leopard ANTÓNIO E CATARINA von Cristina Hanes
Portugal
Silberner Leopard SHMAMA von Miki Polonski
Israel
Nominierung Locarno für die European Film Awards JEUNES HOMMES À LA FENÊTRE von Loukianos Moshonas
Frankreich
Preis der Medien Patent Verwaltung AG KAPITALISTIS von Pablo Muñoz Gomez
Belgien, Frankreich
Besondere Erwähnung ARMAGEDDON 2 von Corey Hughes
Kuba
   
Nationaler Wettbewerb  
Goldener Leopard REWIND FORWARD von Justin Stoneham
Schweiz
Silberner Leopard 59 SECONDES von Mauro Carraro
Schweiz, Frankreich
Best Swiss Newcomer Award LES INTRANQUILLES von Magdalena Froger
Schweiz
   
  PIAZZA GRANDE
Variety Award DREI ZINNEN von Jan Zabeil
Deutschland, Italien
   
Publikumspreis THE BIG SICK von Michael Showalter
USA
  UNABHÄNGIGE JURIES
Preis der Ökumenischen Jury LUCKY von John Carroll Lynch
USA
Besondere Erwähnungen

VINTERBRØDRE von Hlynur Pálmason
Dänemark, Island

QING TING ZHI YAN (Dragonfly Eyes) von XU Bing
China, USA

FIPRESCI-Preis QING TING ZHI YAN (Dragonfly Eyes) von XU Bing
China, USA
Europa Cinemas Label VINTERBRØDRE von Hlynur Pálmason
Dänemark, Island
Don Quijote Preis WAJIB von Annemarie Jacir
Palästina
Semaine de la Critique DRUŽINA (The Family) di Rok Bicek
Slowenien, Österreich
Premio Zonta Club Locarno SEÑORITA MARÍA, LA FALDA DE LA MONTAÑA, von Rubén Mendoza
Kolumbien
Eurimages’ Audentia Award MILLA von Valerie Massadian
Frankreich, Portugal