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Schlussbericht vom 32. Filmfestival von Havanna. Von Geri Krebs

Schlussbericht vom 32. Filmfestival von Havanna. Von Geri Krebs

Kubanische „Perestroika“-Filme, ein beachtliches Aufgebot internationaler Stars und qualitativ herausragendes mexikanisches Kinos kennzeichneten die 32. Ausgabe des „Festival Internacional del Nuevo Cine Latinoamericano“.

Mit nicht weniger als sieben langen Spielfilmen in den Wettbewerbssektionen, sowie einer Reihe von Dokumentar- und Kurzfilmen bewies das kubanische Kino in diesen Dezembertagen eine Vitalität und Vielfalt, wie dies noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Dabei löste das einheimische Kino beim Publikum eine Begeisterung aus, wie man dies schon seit vielen Jahren nie mehr erlebt hatte. Es hatte sich blitzschnell herumgesprochen, dass in diesem Jahr Themen angesprochen wurden, die den Leuten unter den Nägeln brennen, und dies in einer Offenheit, wie man sie bisher nicht kannte.

Abrechnungen mit der repressiven kubanischen Gesellschaft

Dies galt etwa für das Familiendrama „Casa vieja“ des jungen Regisseurs Lester Hamlet oder für „Boleta al paraiso“ von Gerardo Chijona. Während in dem auf einem Theaterstück basierenden “Casa vieja“ die Wahrheiten einer auf Heuchelei, Doppelmoral und Gewalt basierenden Gesellschaft – der aktuellen kubanischen – in einer Katharsis von selten gesehener Intensität nur so herausgeschrieen werden, zeigt Gerardo Chijonas Adoleszenzdrama aus der Subkultur junger Heavy-Metal-Fans ein Kuba, das so erstarrt und repressiv ist, dass die Protagonisten des Films als einzigen Ausweg die gewollte und geplante Ansteckung mit dem Aids-Virus sehen, um dieser trostlosen Welt zu entfliehen.

Dass mit dem 61-jährigen Gerardo Chijona ein Mann der älteren Generation, der bis anhin fast nur mit leichten Komödien aufgefallen war, sich einer Geschichte annahm, die sich vor gut 15 Jahren tatsächlich in Kuba so abgespielt hatte, erstaunt einigermassen und zeigt, wie weit sich in Kuba Dinge am Verändern sind.

Der greise Ehrenpräsident des Filmfestivals, Alfredo Guevara, hatte schon Monate vor dem Festival mehrmals eine Revolution beschworen, die sich erneuern müsse – und im Lichte von Filmen wie diesen gewannen derartige Worte gar einen gewissen Wahrheitsgehalt.

Für Begeisterung sorgte schliesslich auch der neue Film jenes Regisseurs, der international der wohl bekannteste Cineast der Insel ist, und der einmal mehr seine Wandlungsfähigkeit und stilistische Vielfalt unter Beweis stellte. Die Rede ist von Fernando Pérez, der sich mit „José Martí – El ojo del Canario“ auf das Gebiet des Kostümfilms wagte, mit einer Episode aus den Jugendjahren des kubanischen Unabhängigkeitshelden José Martí (1853-1895). Und Pérez schafft es hier, diese längst zum verstaubten Mythos erstarrte Figur von ihrem Denkmalsockel herunter zu holen und zu einem Menschen zu machen, dessen Denken und Handeln für das Kuba der Gegenwart weit aktueller ist, als dies den Machthabern lieb sein kann.

Internationale Stars

Mit der Oscar-Preisträgerin Kathryn Bigelow, dem Filmmusik-Komponisten Robert Krafft - der unter anderem die Musik für „Titanic“ und „Avatar“ schrieb - machten zwei Stars aus den USA dem Festival die Aufwartung. Man muss schon viele Jahre in der Festivalgeschichte zurückgehen, um US-amerikanische Stars dieser Statur am Festival anzutreffen. Und mit dem Russen Nikita Michalkov - der in Havanna mit einer Retrospektive geehrt wurde und persönlich sein monumentales Weltkriegsdrama „Soleil trompeur 2“ präsentierte – und mit dem Spanier Fernando Trueba – der, 10 Jahre nach „Calle 54“, mit dem Animationsfilm „Chico y Rita“ erneut eine Liebeserklärung an den Latin Jazz machte und mit diesem „Heimspiel“ das Publikum verzauberte - waren zwei europäische Regisseure mit Weltformat an dem Festival anwesend und wurden stürmisch gefeiert.

Wettbewerb

Als bestes Erstlingswerk wurde „Alamar“ des Mexikaners Pedro González-Rubio ausgezeichnet. „Alamar“ ist ein siebzigminütiger, dokumentarisch anmutender Film mit Laiendarstellern. Es geht um einen mexikanischen Fischer, der von seiner italienischen Frau geschieden ist. Zusammen mit dem gemeinsamen kleinen Sohn erlebt der Mann - der indianischen Ursprungs ist - auf einem mexikanischen Korallenriff ein paar Sommertage auf einem Fischerboot auf dem offenen Meer und in einer Hütte am Strand, bevor der Junge wieder zurück in die Obhut der Mutter nach Italien muss. Diese so minimalistische Handlungsanlage dient als Ausgangspunkt für ein visuelles und akustisches Delirium, das zu einer Ode an das Meer und die Menschen wird, die mit ihm leben.

Die Jury des Hauptwettbewerbs der Spielfilme, die vom Argentinier Ariel Rotter („El otro“) präsidiert wurde, zeichnete schliesslich einen weiteren Beitrag des insgesamt stark präsenten mexikanischen Kinos aus: „Las buenas hierbas“, neuester Film der – leider bei uns völlig unbekannten – Altmeisterin María Novaro. Das subtil schwebende Werk der 1951 geborenen Regisseurin stellt ebenfalls das Verhältnis des Menschen zur Natur ins Zentrum. Es ist eine komplexe Mutter-Tochter-Geschichte. Protagonistin ist eine Botanikerin, die auf Heilpflanzen spezialisiert ist, und die sich mit der Tatsache konfrontiert sieht, dass ihre jugendlich wirkende Mutter an Alzheimer erkrankt. Die schauspielerische Parforceleistung der beiden Hauptdarstellerinnen ist dabei ebenso beeindruckend wie die gelungene Balance einer filmischen Erzählung, die schier Unmögliches versucht, indem sie Emotionen mit dem geheimen Leben der Pflanzen und dem Funktionieren des menschlichen Gehirns verbindet.

In geografisch gewohnt ausgewogener Weise gingen die weiteren Hauptpreise des Festivals an Filme aus vier verschiedenen Ländern: Den „Gran Premio Coral“ erhielt „La vida útil“ des Uruguayers Federico Veiroj - die an Aki Kaurismäki erinnernde Tragikomödie um einen linkischen Angestellten in einer Cinematheque war bereits am Zurich Film Festival zu sehen gewesen. Mit dem 2. Preis für „Post mortem“ des Chilenen Pablo Larraín, einem Film um einen Gerichtmediziner, der den Militärputsch von 1973 erlebt, wurde schliesslich ein Regisseur ausgezeichnet, der in Havanna bereits 2008 mit seinem vorherigen Film „Tony Marrero“ den Hauptpreis gewonnen hatte. Und mit der meisterhaft lakonischen Faschismus-Allegorie „La mirada invisible“ des Argentiniers Diego Lerman („Tan de repente“) um eine junge Lehrerin und einen älteren Internatsdirektor wurde schliesslich in Havanna auch ein Film ausgezeichnet (Spezialpreis der Jury), der in der Schweiz bald ins Kino kommen wird.
(Geri Krebs)