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Schlussbericht vom 64. Internationalen Filmfestival San Sebastián. Von Geri Krebs

Schlussbericht vom 64. Internationalen Filmfestival San Sebastián. Von Geri Krebs

Mit der Projektion des Abschlussfilms "L'Odyssée", einem Biopic des französischen Regisseurs Jérôme Salle über den Tiefseeforscher Jacques Cousteau, ging am Samstagabend das 64. Internationale Filmfestival San Sebastián zu Ende. Bei den Filmen des Wettbewerbs obsiegte das asiatische und das spanische Kino.

Am letzten Tag war dann noch Richard Gere da. Er war der letzte in einer langen Reihe von Stars, die dem Festival in diesem Jahr die Aufwartung machten und dem Grossanlass jenen Glamour verliehen, den einige in den letzten Jahren vermisst hatten. Speziell mit Preisen geehrt wurden unter anderem Ethan Hawke, Sigourney Weaver, Gael García Bernal oder Angela Molina. Dieser höhere Glamourfaktor, zusammen mit einer Programmation, die, mehr denn je, aus allen Nähten platzte, hatte natürlich auch damit zu tun, dass San Sebastián - zusammen mit dem polnischen Wroclaw/Breslau - Europäische Kulturhauptstadt 2016 ist.

Das Motto für die europäische Kulturhauptstadt San Sebastián lautet: Kultur für das Zusammenleben. Neben einem umfangreichen Angebot in allen Kunstsparten und über das ganze Jahr verteilt, hatten natürlich auch baskische Filmschaffende ihren Beitrag geleistet. "Kalebegiak" (Gesichter der Strasse) hiess der Film, der eigens für das Kulturhauptstadt-Jahr realisiert wurde und der am drittletzten Festivaltag seine viel beachtete Weltpremiere im ausverkauften 3000plätzigen "Velodromo", der grössten Spielstätte des Festivals, erlebte. 15 baskische Regisseure und Regisseurinnen - unter ihnen auch so prominente Namen wie Julio Medem und Imanol Uribe - realisierten 12 Kurzfilme unterschiedlichster Formate und Genres, die als einzige thematische Vorgabe den Schauplatz der Stadt am Golf von Biskaya hatten.

"Es gab keinen bewaffneten Konflikt im Baskenland. Was es gab, war eine Gruppe von Leuten, die glaubten, dass man diejenigen umbringen müsse, die nicht so dachten wie sie." Barbara Dührkop ist eine deutsche Universitätsdozentin, die seit 1978 in San Sebastián lebt und die in "Testimonio" (Zeugnis) des Regisseurs Daniel Calparsoro, einem von zwei Dokumentarfilmen in "Kalebegiak", vor einer Klasse von Mittelschülern steht und ihnen erzählt, was sie einst erlebte. Verheiratet war sie mit dem baskischen Politiker Enrique Casas, einem Abgeordneten der Sozialisitischen Partei PSOE im Baskischen Regionalparlament. Am 23. Februar 1984 wurde er in San Sebastián vor den Augen seiner Kinder von einem Terrorkommando erschossen. Dass in "Kalebegiak" unter den 12 Beiträgen "Testimonio" der einzige ist, der sich der traumatischen Vergangenheit widmet, ist kein Zufall, denn heute scheint das alles weit weg. Eine neue Generation ist im Baskenland herangewachsen, die die Terrorjahre nur noch vom Hörensagen kennt. Das mörderischste all dieser Jahre war 1980 gewesen, fast 100 Menschen waren damals Opfer des ETA-Terrors geworden - und schlicht "1980" hiess ein Dokumentarfilm des baskischen Regisseurs Iñaki Arteta. Der Film wurde innerhalb der thematischen Retrospektive mit dem Titel "The Act of Killing - Cinema and Global Violence" gezeigt, die 30 Filme der letzten 15 Jahre vereinte, darunter natürlich auch den bekannten gleichnamigen Dokumentarfilm von Joshua Oppenheimer. In "1980" erinnern Überlebende und Angehörige von Opfern daran, wie alltäglich damals der Terror geworden war. In einem Fall etwa war er so weit gegangen, dass die ETA den Totengräber eines Friedhofs in San Sebastián erschoss. Sein Verbrechen hatte darin bestanden, dass er der Forderung der Terroristen nicht nachkam, in Zukunft keine von ihnen ermordeten Staatsdiener mehr zu beerdigen. Man kann sich solche Scheusslichkeiten in der vor friedlicher Lebensfreude sprühenden Stadt heute schlicht nicht mehr vorstellen. Ein weiterer viel beachteter Dokumentarfilm zur Vergangenheitsbewältigung im Baskenland war "El fin de ETA", den der britische Regisseur Justin Webster in Zusammenarbeit mit zwei altgedienten Journalisten der spanischen Tageszeitung "El País" realisiert hat. In minutiöser Recherche und mit vielen bis anhin nie veröffentlichten Dokumenten zeigt der Film auf, wie zwischen 2001 und 2011 sich der Prozess entwickelte, der schliesslich im Oktober 2011 mit der definitiven Gewaltverzichtserklärung der ETA seinen vorläufigen Abschluss fand.

Im Wettbewerb schliesslich war es ein spanischer Film, "El hombre de las mil caras" von Alberto Rodriguez ("La isla minima"), der auch noch einmal in die spanische und baskische Vergangenheit zurückblickte. Basierend auf dem Fall des spanischen Geheimdienstagenten Francisco Paesa, der in den 1980er und 1990er Jahren zusammen mit dem Guardia-Civil-Chef Luis Roldán ein unglaubliches Netzwerk aus Korruption, Vertuschung und mörderischer Aktivitäten bis in höchste Regierungskreise geschaffen hatte, ist "Der Mann mit den Tausend Gesichtern" ein unglaublich schillernder Politthriller voller atemloser Spannung. Der Film gewann erwartungsgmäss einen der Hauptpreise, eine "Silberne Muschel" für den besten Schauspieler. Der 52 jährige, aus Barcelona gebürtige Eduard Fernández, verkörperte mit viel Verve und Schlitzohrigkeit Francisco "Paco" Paesa, den Mann, an dem alles Maske und Lüge war. Eine Bemerkung von Fernández bei der Entgegennahme des Preises, sorgte für begeisterte Lacher: "Falls du mich siehst, Don Paco, möchte ich dir herzlich danken". Paesa wurde letztmals 2011 gesehen, sein Aufenthaltsort ist unbekannt, niemand weiss, ob er noch lebt, er wäre heute 80.

Ein weiterer spanischer Wettbewerbsfilm, der ausgezeichnet wurde, war "Que Dios nos perdone" von Rodrigo Sorogoyen, er erhielt den Preis für das beste Drehbuch. Der im Madrid des Krisenjahres 2011 spielende Thriller stellt einen Kriminalpolizisten mit fehlender Aggressionskontrolle und einen schwer stotternden Chefermittler ins Zentrum. Das ungleiche Duo soll eine Serie von Sexualmorden an betagten Frauen aufklären. Dabei markierte der Film eine Tendenz, die im diesjährigen Wettbewerb von San Sebastián auffiel: Eine Häufung von Filmen mit extrem brutalen, oft auch expliziten Gewaltdarstellungen. Mindestens fünf Filme, durchaus unterschiedlich in Herkunft, Stil und Genre könnten hier genannt werden, und ausser "Que Dios nos perdone" gingen bei der Preisvergabe alle leer aus.


Der in mehrerer Hinsicht krasseste, aber auch künstlerisch gelungenste unter diesen Filmen war das Kinderdrama "Playground", ein Erstling des jungen Polen Bartosz M. Kowalski. In fünf Kapiteln rollt er die Chronik einer angekündigten Katastrophe auf. Schauplatz ist der letzte Schultag vor den Sommerferien in einer polnischen Kleinstadt. Inspiriert von einem realen Mordfall aus dem Jahr 1993 in Liverpool, als zwei zehnjährige Jungen einen Dreijährigen ermordeten, zeigt Kowalski mit grösst möglicher Distanz und mit einer schneidenden Kälte und ästhetischen Strenge, die an Filme Michael Hanekes oder Ulrich Seidls erinnert, ein unerklärliches Verbrechen, das sich in seiner Grausamkeit jeglicher Erklärung verschliesst. Es war der kontroverseste Film des Wettbewerbs, viele Zuschauer verliessen während der quälend langen Schlusszene den Saal, es gab Pfiffe und Buhruffe, aber auch starken Applaus. Im täglichen Kritikerspiegel des "Diario Vasco", der wichtigsten Zeitung der Region, waren Wertungen zwischen neun und null Sternen zu finden.

"Asiatische Sanftmut und Schlauheit siegt über die Gewalt" kommentierte schliesslich das spanische Fernsehen den Preissegen am Samstagabend. Es spielte damit auf die Tatsache an, dass zwei Hauptpreise, die "Goldene Muschel" für den besten Film und die Silberne Muschel für die beste Schauspielerin (Fan Bingbing), an den chinesischen Film "I Am Not Madame Bovary" gingen, und eine weitere "Silberne Muschel", die für beste Regie, der südkoreanische Film "Yourself and Yours" erhielt. Während letzterer, realisiert von Hong Sang-soo, ein raffiniertes Vexierspiel um vertauschte Identitäten eines dem Alkohol zugeneigten Malers und seiner Freundin entwickelt, ist "I Am Not Madame Bovary" von Xiaogang Feng, einem 1958 geborenen Regisseur, der auch schon als "chinesischer Spielberg" bezeichnet wurde, eine verspielte Satire auf die chinesische Bürokratie. Der formal ziemlich extravagente Film - der Bildausschnitt ist erst kreisrund, so als würde man in einen Guckkasten blicken, wird später quadratisch und füllt erst gegen das Ende hin die ganze Leinwand aus - erzählt von einer Frau, die nach einer einvernehmlichen - fingierten - Scheidung von ihrem (Ex-)Mann betrogen wird und die danach einen wahren Parcourslauf durch bürokratische Labyrinthe absolviert. Der Film wird, ebenso wie das mit dem Spezialpreis und dem Preis für beste Kamera ausgezeichnete argentinische Sozialdrama "El invierno" auch am Zurich Film Festival zu sehen sein.
(Geri Krebs)

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